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Johannes Gutenberg -Universität Mainz
Romanisches Seminar

Friedhelm Greis

Hauptseminar Literaturwissenschaft:
Fiktion als Fluchtraum des Lebens

Leitung:
Univ.-Prof. Dr. Dieter Janik

Wintersemester 1994/95





Psychologische Aspekte in Galdós'
La desheredada




Inhalt

  • 1 Einleitung
  • 2 Psychologiegeschichtliche Vorbemerkungen
  • 2.1 Psychologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
  • 2.2 Besonderheiten der Psychologie in Spanien im 19. Jahrhundert
  • 3 Zur Person und Persönlichkeit Isidora Rufetes aus der Sicht Galdós'
  • 3.1 Äußere Erscheinung und Verhalten
  • 3.2 Literarische Darstellungsmöglichkeiten von Denk- und Wahrnehmungsprozessen
  • 3.3 Isidoras Innenleben aus der Sicht Galdós'
  • 4 Isidora Rufetes psychische Konstitution aus der Sicht moderner psychologischer Theorien
  • 4.1 Das Phänomen des Tagtraumes
  • 4.2 Entwicklungspsychologische Aspekte
  • 4.2.1 Identitätsentwicklung
  • 4.2.2 Die Problematik narzißtischer Persönlichkeiten
  • 4.2.3 Die Entwicklung des moralischen Urteils
  • 4.3 Das soziale Phänomen des Abstammungswahns
  • 4.4 Isidoras Verhalten als psychische Abwehrmaßnahme
  • 5 Kritik an der Konzeption Galdós'
  • 5.1 Isidora Rufete als Negativfolie zu Augusto Miquis
  • 5.2 Isidora Rufete: ein hoffnungsloser Fall?
  • 6 Schlußbemerkungen
  • 7 Literaturverzeichnis

    1 Einleitung

    Beim Lesen des Romans La desheredada von Benito Pérez Galdós kam mir an verschiedenen Stellen in den Sinn: Isidora Rufete, die Protagonistin der Romans, gehört weder in ein Gefängnis noch in ein Bordell, sondern zunächst in eine therapeutische Behandlung. Hätte sich Galdós somit aus heutiger Perspektive seine Mühen sparen können, den fortschreitenden sozialen Abstieg und physischen Verfall seiner Protagonistin zu schildern, da keine ihrer Unternehmungen eine Lösung ihrer inneren Konflikte und Widersprüche erwarten ließ? Oder hat er intuitiv - ohne besondere Kenntnis psychodynamischer Prozesse, der Bedeutung frühkindlicher Erfahrungen und der Einflüsse des Unter- und Unbewußten -, das Psychogramm einer Person abgeliefert, das auch einer heutigen Analyse standhielte?

    Gerade dadurch, daß Galdós sich mit Isidora Rufete einer Protagonistin aus schwierigem familiären Umfeld bediente,[1] ist eine besondere Sensibilität und Kenntnis der Innenwelt und des Erlebens von Menschen einer durch ein solches Milieu geprägten Persönlichkeit erforderlich. Problematisch wird ein Defizit auf Seiten des Autors in diesem Bereich vor allem dann, wenn er, wie im vorliegenden Fall, sein Werk als pädagogischen Roman konzipiert. Wenn die Ursachenanalyse falsch ist, lassen sich in der Regel auch schlecht Verbesserungsvorschläge machen, so daß die moraleja am Ende des Buches in den Ohren eines Menschen wie Isidora Rufete höchstens wie Hohn klingen dürfte.

    Im Laufe der vorliegenden Arbeit sollen daher zunächst der Kenntnisstand der Psychologie zur Zeit der Abfassung des Romans dargestellt und die Besonderheiten der Psychologie in Spanien in der damaligen Zeit referiert werden.

    Anschließend wird in Erinnerung gerufen werden, wie Galdós die Persönlichkeit der Hauptperson seines Romans schildert. Dies impliziert vor allem die Darstellung ihrer psychischen Konstitution aus der Sicht und in der Begrifflichkeit des Autors, dem ein kleiner Exkurs über die literarischen Darstellungsmöglichkeiten von Denk- und Wahrnehmungsprozessen vorangeht.

    Im Anschluß daran soll eine Beurteilung Isidora Rufetes unter Zuhilfenahme verschiedener neuerer psychologischer Modelle und Untersuchungen versucht werden, wobei beide Konzeptionen miteinander verglichen werden sollen. Im letzten Kapitel wird der Frage nachgegangen, welche gesellschaftliche Vorstellungen hinter der Konzeption von La desherada sich verbergen und in welcher Weise und zu welchem Zweck die zeitgenössischen psychologischen Theorien Eingang in das Werk gefunden haben.

    2 Psychologiegeschichtliche Vorbemerkungen

    Um deutlich zu machen, daß Galdós sich ungeniert zweifelhafter psychologischer Erklärungsmodelle bediente, sei kurz aufgeführt, wie er sich Isidoras Realitätswahrnehmung vorstellte:

    Enseñas a tus nervios a falsificar las sensaciones y a obrar por sí mismos, no como receptores de la impresión, sino como iniciadores de ella. ¡Bonito juego! ¡Violación de los órdenes de la Naturaleza![2][258, 1076]3

    Da Galdós sich an dieser wie auch an anderen Stellen zeitgenössischer psychologischer und physiologischer Erkenntnisse bediente, soll eine kurzer Blick auf den Stand der Psychologie als Wissenschaft z.Z. der Abfassung des Romans geworfen werden.

    2.1 Psychologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

    Im letztgenannten Zitat hat Galdós zwei Begriffe gebraucht, die im 19. Jahrhundert im Mittelpunkt wissenschaftlicher Interessen standen: Nerven (nervios) und Wahrnehmung (impresión). Im Laufe des 19. Jahrhunderts hatte es erstaunliche Fortschritte im Verständnis menschlicher Sinneswahrnehmungen gegeben; die Funktionsweise der Sinnesorgane, des Nervensystems und des Gehirns konnte mit Hilfe physikalischer und chemischer Gesetze schon gut erklärt werden. Dennoch konnte sich die Psychologie erst spät als eigenständige Wissenschaft etablieren, da sich psychische Prozesse nicht ohne weiteres quantifizieren ließen.

    Gegen 1800 hatte Immanuel Kant schlichtweg behauptet, daß die Psychologie niemals eine Wissenschaft werden könne. Wissenschaft erfordere Messung und Experiment, man könne aber psychologische Vorgänge nicht messen und quantifizieren oder mit ihnen, wie mit physikalischen Gegenständen, experimentieren. Beide Argumente wurden innerhalb der folgenden Jahrzehnte widerlegt. Grundlegende seelische Vorgänge wurden unter anderem von Herbart, Weber und Fechner in mathematische Form gebracht. Man entwickelte die Psychophysik zur Messung seelischer Ereignisse; Ebbinghaus führte quantitative Experimente mit dem Gedächtnis durch.[4]

    Schließlich wurde im Jahre 1879 doch noch das erste Institut für experimentelle Psychologie von Wilhelm Wundt in Leipzig gegründet, nachdem u.a. Herbart, Lotze, Helmholtz und Fechner schon wichtige Vorarbeiten auf diesem Gebiet geleistet hatten. Psychologie war im vergangenen Jahrhundert vor allem auf das Bewußtsein fixiert, der Begriff des Unbewußten fand kaum Beachtung und trat erst durch die Publikationen S. Freuds in das Interesse der Wissenschaft. Die Bedeutung infantiler Konflikte und frühkindlicher Erfahrungen im Sinne der Freudschen Psychoanalyse waren daher nahezu unbekannt. Ebenfalls wurde ein relevanter Anteil unbewußter Persönlichkeitsanteile am menschlichen Verhalten kaum für möglich gehalten.

    Dies hatte auch zur Folge, daß das Verhältnis von ererbten und erworbenen Persönlichkeitsmerkmalen anders bewertet wurde, als es in einer phasen- und konfliktbezogenen Psychoanalyse geschieht. Da im 19. Jahrhundert sowohl die Vererbungslehre als auch die Evolutionstheorie entwickelt wurden, verwundert es nicht, daß deren Erkenntnisse vermehrt auch auf die Erklärung von Persönlichkeitsmerkmalen und Charaktereigenschaften angewendet wurden: von der Normalität abweichendes Verhalten, im positiven wie im negativen Sinne, schien im wesentlichen von ererbten Faktoren bestimmt zu werden.

    Die antisoziale oder dissoziale Persönlichkeitsstörung schließlich beschreibt die kriminelle Persönlichkeit mit fehlender sozialer Einsicht und Verantwortung, Mißachtung allen normativen Verhaltens und ausgeprägter affektiver Kälte. Es kann heute als gesichert angesehen werden, daß Menschen mit einer solchen Charakterverfassung aus einem ablehnenden und emotional kalten sozialen Milieu stammen. Die Beobachtung, daß Generationen von Kriminellen sich in der Gesetzesübertretung ablösen, hat früher zu der fraglichen Ansicht geführt, daß ein genetischer Faktor vorliegen müsse.[5]

    Der etwas schwammige Begriff der Konstitution wird heute ebenfalls kritischer gesehen:

    Durch eine solche Tradition (Internalisierungsprozesse, F.G.) von Neurose und neurotischem Verhalten kann man mühelos erklären, warum oft Generationen an gleichen oder ähnlichen Neurosen leiden. Es bedarf hier nicht unbedingt der Einführung des Begriffes der Konstitution. Mit Konstitution wird alles bezeichnet, was wir nicht weiter erklären wolle. Es ist keine Frage, daß es so etwas wie Konstitution gibt. Nur sollte man sehen, was die breite Verwendung des Begriffes impliziert: therapeutische Resignation, prophylaktische Resignation, diagnostische Starre. Sind die Gene allein am Verhalten schuld und nicht wir und unsere soziale Umwelt, unsere Gesellschaft, dann haben auch wir wenig Verpflichtung gegenüber dem, was Freud einmal das "neurotische Elend" nannte, es kann dann halt keiner etwas dazu.[6]

    Gerade die Suche nach neuen Therapiemethoden hatte S. Freud gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts dazu veranlaßt, die materialistisch orientierte empirische Psychologie zu verlassen und sich über den Weg der Hypnose und Traumdeutung den psychischen Prozessen seiner Patienten zu nähern. Obwohl es bereits seit Beginn des Jahrhunderts psychiatrische Anstalten gab, dienten sie mehr der Isolierung als der Heilung der Patienten, so daß auch Galdós vehement die Zustände >>en aquellos locales primitivos<<[15, 973] anprangerte. Die Psychiatrie war für ihn eine Mischung aus Nächstenliebe und sozialer Abwehr, die eher eine Verschlimmerung des Wahnsinns der Internierten hervorrief. Galdós empfand ein starkes Unbehagen gegen einen solchen Umgang mit psychisch Kranken; es zeigte vor allem die medizinische Hilflosigkeit in bezug auf mögliche therapeutische Interventionen.

    Acércase a él un señor bondadoso, pónele la mano en el hombro con blandura y cariño, le toma el pulso, lee brevemente en su extraviada fisonomía, en sus negras pupilas, en el caído labio, y, volviéndose a un joven que le acompaña, dice a este:

    --Bromuro potásico, doble dosis.

    Sigue adelante el médico, y el paciente toma de nuevo su tono oratorio, tratando de convencer al tronco de un árbol.[12f, 972]

    Auch wenn in der heutigen Zeit bei einem Fall wie Tomás Rufete ebenfalls nicht auf Psychopharmaka verzichtet werden könnte, scheint Galdós in der vorliegenden Szene nicht mehr als die therapeutische Hilflosigkeit der Medizin ausdrücken zu wollen: >>El médico hace a su compañero la expresiva seña de no tiene remedio, y pasa adelante.<<[14, 973] Eine weitere Kuriosität im Bereich der Psychologie bzw. Physiologie zu Beginn des 19. Jahrhundert war die sog. Phrenologie. Deren Begründer Franz Josef Gall (1758-1828) glaubte aus der Form des Schädels Rückschlüsse auf den Charakter einer Person schließen zu können. Diese Pseudowissenschaft fand ihre Anhänger vor allem in England und den USA und wurde auch in Spanien nach 1842 propagiert.[7]

    Zusammenfassend läßt sich sagen, daß in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine Kenntnisse oder Konzepte über die Besonderheiten psychodynamischer Prozesse vorlagen, mit denen schwerwiegende neurotische Störungen, Psychosen oder auch nur Charakterstörungen hätten erklärt und beschrieben werden können. Natürlich waren es schon immer solche ungewöhnlichen Charaktere, die das Interesse von Schriftstellern auf sich gezogen haben, vor allem innerhalb des Naturalismus.

    Inwieweit die spezielle Auffassung von Psychologie in Spanien die Abfassung von La desheredada beeinflußt und ausgelöst haben könnte, soll im Folgenden kurz untersucht werden.

    2.2 Besonderheiten der Psychologie in Spanien im 19. Jahrhundert

    An der Person von Francisco Giner de los Ríos wird die enge Verbindung von Psychologie und Pädagogik im Spanien des 19. Jahrhunderts deutlich.

    Die wissenschaftliche Psychologie wurde in Spanien am Ende des 19. Jahrhunderts durch eine Gruppe progressistischer Intellektueller eingeführt, die stark durch deutsches Gedankengut beeinflußt waren (insbesondere durch die Philosophie von Karl Christian Krause, 1781-1832, und dessen Schule). Diese Gruppe wurde von Julián Sanz del Río (1814-1869) angeführt und beabsichtigte die moralische und intellektuelle Erneuerung der spanischen Gesellschaft.[8]

    Giner de los Ríos war seinerseits ein Schüler von Sanz del Río und gründete im Jahre 1876 die Institución Libre de Enseñanza, nachdem er wegen eines Protestes gegen Erlasse des Erziehungsministeriums seinen Lehrstuhl für Rechtsphilosophie und Internationales Recht verloren hatte. So verfaßte Giner de los Ríos 1874 seine Lecciones Sumarias de Psicología, eine Zusammenstellung krausistischer Thesen zum Gebrauch in Krankenschwesternschulen.[9] Auch wenn die Verbindung von Pädagogik und Psychologie sehr fortschrittlich und modern wirkt, stellt sich die Frage nach deren inhaltlicher Ausgestaltung und Gewichtung. Schließlich gab es zur damaligen Zeit weder Lern- und Verhaltenstheorien noch entwicklungspsychologische Konzepte. Untersucht man das Publikationsorgan der Institución, das Boletín de la Institución Libre de Enseñanza (BILE), auf den Anteil psychologischer Artikel, so stellt man fest, daß sie lediglich einen geringen Prozentsatz ausmachten:

    Before 1900 one third of BILE was dedicated to studies on teaching and education, and little more than 6 percent was devoted to psychology. In this early period the autors that most often wrote on psychological themes were Giner (8 articles), Simarro (7), the late Sanz del Río, J. Beteiro and Concepción Arenal (6 each of them).[10]

    In diesem Zusammenhang wäre eine genaue Kenntnis der benutzten psychologischen Konzepte sehr aufschlußreich, da zu dieser Zeit sicher noch einige fragwürdige psychologische Theorien en vogue waren.[11] Im Jahre 1902 wurde schließlich an der Naturwissenschaftlichen Fakultät Madrids ein Lehrstuhl für Experimentalpsychologie begründet und von Luis Simarro besetzt. Vergleicht man dieses Datum mit der Begründung eines solchen Lehrstuhles in Deutschland 1879 durch Wilhelm Wundt, wird deutlich, daß die Entwicklung in Spanien in dieser Beziehung mehrere Dekaden hinter der Mitteleuropas hinterherhinkte.

    Es verwundert somit nicht, daß auch ein Autor wie Galdós teilweise überkommenen Theorien verhaftet war, die, im Falle der Phrenologie, sich auch in der Abfassung von La desheredada niederschlugen. Erst in der endgültigen Fassung seines Romans hat er eine solche konkrete Anspielung weggelassen,[12] jedoch sagt er an einer anderen Stelle:

    Augusto Miquis (...) es hoy un médico joven de gran porvenir. Entonces era un estudiante aprovechadísimo, aunque revoltoso, igualmente fánatico por la Cirugía y por la Música, ¡que antítesis!, dos extremos que parecen no tocarse nunca, y sin embargo, se tocan en la región inmensa, inmensamente heterogénea del humano cerebro.[65, 994]

    Immerhin wußte Galdós also, daß bestimmte Regionen des Gehirns bestimmte Funktionen übernehmen, lehnte inzwischen aber die These ab, daß die Kopfform Hinweise auf die Charaktereigenschaften und spezifischen Fähigkeiten einer Person geben könnte. Galdós beharrte weniger auf der biologischen Determination von Charaktereigenschaften, sondern auf der Freiheit und Möglichkeit des einzelnen zum moralisch guten Handeln.[13] Inwieweit dies auch auf die Person Isidora Rufetes zutrifft, ist im Folgenden Gegenstand der Untersuchung.

    3 Zur Person und Persönlichkeit Isidora Rufetes aus der Sicht Galdós'

    3.1 Äußere Erscheinung und Verhalten

    Isidora Rufete ist zu Beginn des Romans eine junge Frau von ca. 20 Jahren. Ihr Vater Tomás Rufete stirbt als Wahnsinniger in einer psychiatrischen Klinik, während ihre Mutter bereits kurz nach Ausbruch der Geisteskrankheit ihres Gatten gestorben war. Isidora und ihr jüngerer Bruder Mariano stehen somit plötzlich als Waisen da, die auf das Wohlwollen ihrer Verwandtschaft angewiesen sind. Galdós schildert seine Protagonistin Isidora Rufete daher im ersten Kapitel seines Romans als eine Person, die eher Bedauern und Mitleid als Bewunderung verdient: eine hübsche aber mittellose Frau, deren luxuriöses und sorgenfreies Leben durch den Schwachsinn ihres Vaters plötzlich ins Gegenteil umgeschlagen ist. Doch bereits am Ende des sie einführenden Dialogs - mit einem von ihrem Schicksal scheinbar berührten Anstaltsangestellten -, wird dem Leser angedeutet, daß sie ihre für sie nun problematisch gewordene Herkunft zu leugnen versucht:

    Y todo cuanto he padecido ha sido injusto añadió ella prontamente, sorbiendo también una regular porción de aire, porque todo es contagioso en este mundo. No sé si me explicaré bien; quiero decir que a mí no me correspondía compartir las penas y la miseria de Tomás Rufete, porque aunque le llamo mi padre, y a su mujer mi madre, es porque me criaron, y no porque yo sea verdaderamente su hija. Yo soy...[29, 979f]

    Galdós löst erst im dritten Kapitel das Rätsel um Isidoras vermeintliche Herkunft auf:

    Mi madre declaró Isidora, poniéndose la mano en el corazón para comprimir, sin duda, un momento afectuoso demasiado vivo, mi madre... fue hija de una marquesa.[54, 990]

    Isidora begnügt sich nun nicht damit, durch diese Illusion sich in ihrer eigenen Phantasie zu trösten, sondern versucht, ihre vorgebliche adlige Abstammung mit gesellschaftlich akzeptierten Mitteln durchzusetzen. Zu den Besonderheiten ihres Charakters gehört daher die Hartnäckigkeit und Unnachgiebigkeit mit der sie im Verlaufe der Handlung am Glauben an ihre Nobilität festhält. Weder die anfängliche Tracht Prügel durch ihre Tante Sanguijelera, noch die guten Ratschläge ihres Freundes Miquis, noch der verlorene Prozeß lassen sie Abstand davon nehmen. Im Gegenteil, auf dem Höhepunkt ihrer Selbstzweifel, in der Einsamkeit der Gefängniszelle, hält sie ungebrochen daran fest:

    Y, sin embargo, soy noble. No me quitareís mi nobleza, porque es mi esencia, y no puedo ser sin ella, ni ése es el camino, ni ése es el camino.[440, 1153]

    In bezug auf ihre anderen Fähigkeiten schildert Galdós sie als eine Frau, die fast ausschließlich dem Schein statt dem Sein verhaftet ist:

    Le (Joaquín Pez, F.G.) amas con lealtad y constancia, prendada más bien de la gracia y nobleza de su facha, que de lo que en él constituye y forma el ser moral.[258, 1076]

    Ihre Gedanken drehen sich in erster Linie um Äußerlichkeiten, während sie z.B. völlig unfähig ist, mit ihren finanziellen Mitteln umzugehen. Ebenfalls ist Isidora nicht in der Lage, einen bürgerlichen Beruf zu ergreifen, der ihr ein bescheidenes, aber gesichertes Auskommen ermöglichen könnte.

    Un mes no completo había transcurrido de esta vida honrada y económica, sin que Isidora pudiera llegar a decidir en qué profesión, arte u oficio había de emplear su talento y ganas de ponerse al trabajo.[275, 1084]

    Im Gegenteil, sie verbraucht ihr geerbtes Vermögen um ihren Anerkennungsprozeß zu führen und sich die Gunst des Lebemannes Joaquín Pez zu erhalten, beides mit wenig Aussicht auf Erfolg. Um auf Luxus und Bequemlichkeiten nicht verzichten zu müssen, läßt sie sich schließlich von einem reichen Unternehmer und Politiker als dessen Mätresse aushalten. Im allgemeinen sind die Beziehungen Isidoras zu ihren Mitmenschen von einem offensichtlichen Gefälle gekennzeichnet, das ein harmonisches Miteinander nahezu unmöglich macht. Aus diesem Grund enden ihre Beziehungen mit Männern in gegenseitiger Frustration, besonders wenn diese eine starke Zuneigung zu ihr empfinden. Der Mann, den Isidora zu lieben glaubt, enttäuscht sie dagegen fortlaufend, ohne daß sie Konsequenzen daraus ziehen könnte.

    Galdós zeichnet im Laufe des Romans somit ein immer negativeres Bild seiner Protagonistin und läßt sie schließlich als billige Hure enden. Isidora sieht sich als eine Frau der Extreme, nichts ist ihr mehr verhaßt als das Gewöhnliche:

    Bien, me agrada eso. O en lo más alto o en lo más bajo. No me gustan términos medios.[360, 1118]

    Mit ihren hohen Ansprüchen und beschränkten Fähigkeiten muß Isidora zwangsläufig an der Realität scheitern, dies ist die Moral, die Galdós aus seiner Ezählung zieht.

    Si sentís anhelo de llegar a una difícil y escabrosa altura, no os fiéis de las alas postizas. Procurad echarlas naturales, y en caso de no lo consigáis, pues hay infinitos ejemplos que confirman la negativa, lo mejor, creedme, lo mejor será que toméis una escalera.[483, 1170]

    Welche psychische Konstitution hinter diesem Verhalten steht, und auf welche Ursachen dieses Verhalten aus der Sicht Galdós' zurückgehen mag, soll im folgenden untersucht werden.

    3.2 Literarische Darstellungsmöglichkeiten von Denk- und Wahrnehmungsprozessen

    Jeder Autor hat verschiedene Erzähltechniken zur Auswahl. Galdós variiert im vorliegenden Roman mehrmals seinen Stil, manchmal sogar die literarische Gattung. Zwei Kapitel des Romans sind in Form einer Bühnenszene gestaltet (Kap. 24 und 30), des weiteren lassen sich soziologische Analysen und sozialkritische Kommentare finden. Ebenfalls ist ein Kapitel im Tagebuchstil verfaßt (Efemérides).[14] Mitunter ist Galdós sich selbst nicht sicher, wie er seine Ausführungen verstehen soll. Nach einer eindringlichen Standpauke gegenüber Isidora stellt er fest: >>Voz de conciencia de Isidora o interrogatorio indiscreto del autor, lo escrito vale.<<[259, 1077]

    Eine angemessene Erzähltechnik zur Darstellung des Gefühlslebens seiner Protagonistin wäre der sog. Innere Monolog, mit dem das ständige Hin-und Herwälzen der Gedanken und die überbordende Phantasie Isidoras gut zum Ausdruck hätten gebracht werden können, im Sinne des stream of consciousness.15 Dieses Verfahren war z.Z. der Abfassung des Romans jedoch noch unbekannt und gehört zu den Neuerungen der Erzählung des 20. Jahrhunderts, so daß sich Galdós im Rahmen seiner zeitgenössischen Möglichkeiten bewegte. Im Kapitel 11 Insomnio número cincuenta y tantos versucht Galdós zumindest dem Leser einen Einblick in Isidoras Gedankenwelt zu geben, indem er eine ihrer schlaflosen Nächte beschreibt. Da er das Räsonieren einer ganzen Nacht jedoch auf fünf Seiten zusammenfaßt, ist das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit umgekehrt wie beim Inneren Monolog, so daß sich Intention und Technik nicht entsprechen.

    Interessant ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß der eigentliche psychologische Roman, dessen Hauptvertreter Dostojewski, Flaubert, Stendal, Fontane u.a. waren, nach der Begründung der Psychoanalyse durch S. Freud eher verschwunden ist, da sich das Unbewußte anscheinend besser mit surrealistischen oder expressionistischen Mitteln darstellen läßt, wie es besonders im Werk Franz Kafkas gelungen ist.

    3.3 Isidoras Innenleben aus der Sicht Galdós'

    In eindringlicher Weise hat Galdós die z.T. inhumanen Zustände im Bereich der Psychiatrie geschildert. Isidora Rufete ist für Galdós scheinbar kein Fall für eine solche Art von Psychiatrie, da ihr auf diese Weise sicherlich keine Hilfe zuteil werden könnte. Sie scheint in keinem besonderen Maße an Realitätsverlust zu leiden, um eine Einweisung in eine solche Anstalt gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Daß eine Frau als Prostituierte endet, muß die Gesellschaft in den Augen Galdós' akzeptieren bzw. als Strafe für ihr anmaßendes Verhalten betrachten. Galdós schildert Isidora Rufete als eine versnobte junge Frau, deren einzige Interessen im Führen eines luxuriösen Lebensstils und der Anerkennung als Adlige liegen. Eine "normale" Frau zu sein, liegt ihr vollkommen fern, dem zieht sie ein Dasein als Prostituierte vor. Aus der Sicht Galdós' ist Isidoras Verhalten in höchsten Maße irrational, sinnlos und schädlich. Da ihm Erklärungsmodelle auf der Basis von unbewußten und unterbewußten psychischen Prozessen fehlen, wird er das Verhalten einer Person im wesentlichen durch im Bewußtsein stattfindende Vorgänge zu erklären versuchen. Aus diesem Grund beschreibt Galdós seine Protagonistin zunächst als Frau mit einem ausgeprägten Binnenerleben.

    En aquella segunda vida, Isidora se lo encontraba todo completo, sucesos y personas. Intervenía en aquellos, hablaba con éstas. Las funciones diversas de la vida se cumplían detalladamente, y había maternidad, amistades, sociedad, viajes, todo ello destacándose sobre un fondo de bienestar, opulencia y lujo. Pasar de esta vida apócrifa a la primera auténtica, érale menos fácil que parece. Era necesario que las de Relimpio, con quienes vivía, le hablasen de cosas comunes, que fuese muy grande el trabajo y empezase muy temprano el ruido de la máquina de coser, o que su padrino, bondadosísimo don José de Relimpio, le contase algo de su vida pasada. Como estuviera sola, Isidora se entregaba maquinalmente, sin notarlo, sin quererlo, sin pensar siquiera en la posibilidad de evitarlo, al enfermizo trabajo de la fabricación mental de su segunda vida.[59f, 992]

    Mitunter leidet Isidora jedoch unter ihrem extensiven Binnenerleben, wenn ihr beständiges Phantasieren ihr den Schlaf raubt und die Nacht zum Tage macht.

    Aquí, debajo de este casco de hueso, hay un nido en el cual una madre grande y enroscada está pariendo sin cesar... [164, 1038]

    En mi cabeza hay algo que no marcha bien. Esto es una enfermedad. [168, 1040]

    Solche Selbstzweifel sind ihr im allgemeinen fremd, so daß sie gut mit ihrer Phantasie zurechtkommt. Isidora Rufete lebt demnach in einer zweiten Scheinwelt, in die sie sich zurückzieht, sobald es ihr von Seiten der Umwelt ermöglicht wird. Obwohl dieses Verhalten in seiner Extension sicherlich ungewöhnlich ist, versucht Galdós im weiteren Verlauf des Romans nicht, biographische Gründe dafür anzugeben. Der unkritische Umgang mit der Realität scheint ihr schon väterlicherseits in die Wiege gelegt worden zu sein, da sowohl ihr Vater Tomás Rufete wie dessen Cousin Santiago Quijado-Quijana (el tío el canónigo) Probleme im Umgang mit der Wirklichkeit hatten. Diese Eigenschaft zusammen mit einer überbordenden Phantasie lassen für Isidora kaum die Möglichkeit offen, zu einer realistischen Einschätzung ihrer selbst, ihrer Mitmenschen und ihrer Gesellschaft zu gelangen.

    Dennoch schildert Galdós seine Protagonistin nicht ausschließlich so, als ob sie vollkommen unfähig wäre, Einsicht in die Sinnlosigkeit ihrer Ansprüche und ihres Verhaltens zu gewinnen. Zumindest zeitweise scheint sie dazu bereit zu sein, ein bescheidenes bürgerliches Leben zu akzeptieren; jedoch nicht ohne dies romantisch zu überhöhen[16].

    Galdós stellt Isidora somit als eine Frau dar, die in einer Traumwelt lebt und versucht, mit Hilfe einer fingierten adligen Abstammung ihre Phantasien in die Wirklichkeit zu überführen. Zwei Faktoren, Snobismus und Phantasieleben, verbinden sich zu einer unheilvollen Allianz gegen die Realität. Welche Ursachen und Funktionen beide Elemente innerhalb Isidoras Realitätsbewältigung haben könnten, steht dabei nicht zur Disposition. Dies ist wohl das entscheidendste Manko innerhalb der Konzeption des Romans, was sicherlich auch durch die pädagogische Intention verursacht wurde.

    Um diese Defizite etwas deutlicher zu machen, sollen im folgenden Abschnitt einige Überlegungen angestellt werden, in welcher Weise Isidora aufgrund ihrer psychischen Verfaßtheit auf ein ausgeprägtes Phantasieleben und ihren Snobismus angewiesen ist.

    4 Isidora Rufetes psychische Konstitution aus der Sicht moderner psychologischer Theorien

    Natürlich kann aus der Perspektive des Lesers nicht die psychologische Diagnose einer Person vorgenommen werden, die ein Autor aus seiner Sicht so konzipiert hat, daß sie innerhalb seines Romans ihre Funktionen plausibel und stringent erfüllt. Zumindest können jedoch die Phänomene, die ihr zugeordnet werden, näher untersucht werden. Aus der mir vorliegenden beschränkten literaturwissenschaftlichen Sekundärliteratur geht nicht hervor, inwieweit sich Galdós an historischen Fällen ähnlichen Verhaltens orientiert hat. Im Bereich psychologischer Untersuchungen sind solche Fälle jedoch breit dokumentiert. Im folgenden sollen nun verschiedene Erklärungsmodelle vorgestellt werden. Dabei bleibt nicht aus, daß verschiedene Erklärungsmodelle teilweise ohne gegenseitige Bezugnahme nebeneinandergestellt werden. Dies liegt zum einen daran, daß Galdós m.E. verschiedene inkompatible Phänomene in der Person Isidora Rufetes vereinigt hat, zum anderen daran, daß sehr unterschiedliche Aspekte ihrer Persönlichkeit hier untersucht werden, die daher auch sehr divergierender Erklärungsmodelle bedürfen.

    4.1 Das Phänomen des Tagtraumes

    Galdós beschreibt Isidora als eine Frau, die in ihrer Phantasie ein zweites Leben führt. Ein solches Verhalten wird im allgemeinen als Tagträumerei bezeichnet und findet sich im Prinzip bei jedem Menschen, in jedoch sehr unterschiedlicher Ausprägung.[17] Die Tagtraumaktivität des Menschen wurde innerhalb der Psychologie zu verschiedenen Zeiten untersucht und z.T. sehr unterschiedlich erklärt und bewertet. Galdós vertritt diesbezüglich eine Auffassung, wie sie noch in den dreißiger Jahren von Psychologen und Erziehungswissenschaftlern vertreten wurde: Tagtraum als eine schädliche Form von Realitätsflucht. Der Pädagoge L. Bopp verurteilte sie auf folgende Weise:

    Eine gewisse Blasiertheit gegenüber der unerfreulichen, grauen Außenwelt kann sich aus diesem verfrühten, genießenden Wachtraumerleben des Endzieles ergeben, kann das junge Innenleben verseuchen, am Ende steht der von Schöllgen klar herausgestellte Realitätsverlust. (...) Dieser jugendliche Typ ist der Parasit schlechthin. Dieses Leben, fern der wirklichen Welt, in einer eingebildeten Welt wächst sich aus in der gesamten Lebensführung. So Geartete (...) kennen überhaupt keine Sorgen, sie denken nicht an den kommenden Tag, sie lassen andere für sich sorgen.[18]

    Solchen Überlegungen theoretischer Natur wurden in den vergangenen Dekaden vermehrt konkrete Falluntersuchungen über das Verhältnis von Tagtraumaktivität und Realitätsbezug entgegengestellt. In der Untersuchung von Gohl aus dem Jahre 1991 wurden Intensität und Situationsbedingtheit von Tagträumen bei Frauen und Mädchen analysiert und dabei kein nennenswerter Realitätsverlust festgestellt:

    Es gibt keinerlei empirisch gesicherte Untersuchungsergebnisse darüber, daß sich extensive und erst recht gelegentliche Tagträumer/innen dem "tätigen Leben" nur unzureichend widmen. SINGER und andere Tagtraumforscher stellten bei hunderten von Versuchspersonen keine Korrelation zwischen der Neigung zum Tagträumen und "Lebensuntüchtigkeit" fest. Im Gegensatz zu der verbreiteten Meinung, daß insbesondere jugendliche Tagträumer dazu neigen, den Bezug zur Realität zu verlieren, ergaben seine Forschungen, daß sie besonders klare Genzen zwischen Traum und Wirklichkeit ziehen und auch bei anderen Gelegenheiten Fiktion und Wirklichkeit genau auseinanderhalten. So hielten phantasiebegabte Kinder z.B. die Inhalte von Fernsehsendungen seltener für Realität als andere.[19]

    Dies heißt nicht, daß spezifische Tagtrauminhalte nicht durch Unterhaltungsmedien angeregt werden,[20] sondern wendet sich gegen die auch im Falle von Isidora Rufete vertretene Auffassung, daß der Konsum von Trivialliteratur einen Realitätsverlust hervorrufen kann. Sicherlich war Galdós einer Meinung mit der Sanguijelera, die Isidoras Abstammungsglauben mit der Lektüre von Groschenromanen in Verbindung bringt:

    En sesenta y ocho años no lo he visto nunca... Me parece que tú te has hartado de leer esos librotes que llaman novelas. ¡Cuánto mejor es no saber leer! Mírate en mi espejo. No conozco una letra..., ni falta. Para mentiras, bastantes entran por las orejas... [54, 990]21

    In diesem Fall widersprechen wissenschaftliche Untersuchungen also der Auffassung Galdós', wonach eine gesteigerte Tagtraumaktivität in Verbindung mit Trivialliteraturkonsum eine Art Realitätsverlust begünstigen. Ein weiteres Ergebnis der Tagtraumforschung besagt, daß extrem belastende Situationen die Tagtraumaktivität nicht begünstigen, sondern verunmöglichen.[22]

    Zusammenfassend kann man sagen, daß sich alle Frauen, die sich an äußerst belastende Erlebnisse wie Tod oder schwere Erkrankung eines nahestehenden Menschen, eigene schwere Erkrankung, Trennung von einem langjährigen Partner und andere existentielle Probleme erinnerten, die Hemmung kannten, tagzuträumen. (...) Eine Flucht vor wirklich bedrohlichen und belastenden realen Erlebnissen in eine fiktive Welt ist diesen Ergebnissen nach unmöglich.[23]

    Im Falle von Isidora Rufete wird daher zu untersuchen sein, inwieweit der Schwachsinn und Tod des Vaters und der ebenfalls damit verbundene Tod der Mutter von ihr die Annahme einer fiktiven adligen Abstammung zur Erhaltung ihrer psychischen Stabilität verlangten. Es ist erstaunlich, daß Galdós zwar keine besonderen Anzeichen von Trauer und Betroffenheit von Seiten Isidoras über den Tod ihrer Eltern erwähnt, jedoch nicht darüber reflektiert. In bezug auf weniger kritische Lebensereignisse hat die Tagtraumforschung ergeben, daß >>Menschen, die nicht oder extrem selten tagträumten, eher zu psychischen Auffälligkeiten neigten, als extensive Tagträumer/innen.<<[24]

    Des weiteren ist aus diesem Gebiet erwähnenswert, daß phantasiebegabte Kinder in der Regel nicht in einem restriktiven Milieu aufwachsen, sondern viel Zuwendung und Aufmerksamkeit benötigen.

    Zumindest in der ersten Phase seiner Kindheit, so SINGER, muß ein phantasievolles Kind gut gepflegt und behandelt worden sein. Tauchen später Probleme auf, so kann es sich mit Hilfe von Phantasiespiel und Tagtraum darüber hinweghelfen.[25]

    Auch Isidora hat ihre Kindheit als wohlbehütet empfunden und konnte anscheinend in ausreichender Weise ihre Phantasie entwickeln. Dennoch scheint sie von Seiten des Vaters Eigenschaften mitbekommen zu haben, die ihr ein zufriedenes Dasein sehr erschweren sollten: übertriebener Ehrgeiz und gesteigertes Geltungsbedürfnis. Deren Übertragungsmechanismen sollen im folgenden Kapitel näher untersucht werden.

    4.2 Entwicklungspsychologische Aspekte

    4.2.1 Identitätsentwicklung

    Im Kapitel 2.1 Psychologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde kurz angedeutet, daß entgegen der früher verbreiteten Auffassung von der teilweisen Vererbung von Charaktereigenschaften heute in der Psychoanalyse das Konzept der Internalisierung bevorzugt wird. Demnach muß ein Individuum zur Ausbildung einer eigenen Persönlichkeit und Identität im Laufe seiner Entwicklung sich mit Persönlichkeitsanteilen anderer verschmelzen und diese zu einer eigenen Form verarbeiten.[26] Bei diesem Prozeß spielen die primären Bezugspersonen wie Eltern und Geschwister eine besondere Rolle.

    Art und Qualität der Identifizierungsangebote entscheiden über Art und Qualität des heranreifenden Ichs. Sie entscheiden über die psychische Gesundheit und Krankheit des heranreifenden Menschen, über die Frage, ob z.B. jemand eine Neurose oder eine Psychose entwickeln wird. Diese Auffassung hat sich stark durchgesetzt. Für die Psychoanalyse spezifisch bleibt, daß sie von einer Internalisierung nicht nur der bewußten, sondern gerade auch der unbewußten Wünsche und Einstellungen der Eltern ausgeht.[27]

    Diese Feststellung scheint mir auch für die Problematik Isidora Rufetes von erheblicher Bedeutung. Aus der Schilderung ihres Vaters geht deutlich hervor, daß dieser von einem brennenden Ehrgeiz besessen war, innerhalb der Gesellschaft aufzusteigen, um zu Macht, Einfluß und Reichtum, d.h. sozialer Anerkennung, zu gelangen. Hinter einer solchen Persönlichkeit steht im allgemeinen ein tiefe Störung des Selbstwertgefühls, die auf diese Weise kompensiert werden soll. Es ist daher wahrscheinlich, daß Isidora im Laufe ihrer Entwicklung den Selbstanspruch des Vaters, etwas Besonderes sein zu müssen, internalisiert und für sich übernommen hat.[28] Eine Persönlichkeitsstörung wie im Falle Isidoras und ihres Vaters wird als Narzißmus bezeichnet, benannt nach dem Jüngling Narcissos aus der griechischen Mythologie, der sich in sein Spiegelbild verliebte.[29] Auf die Besonderheiten dieser Persönlichkeitsorganisation soll im folgenden Kapitel näher eingegangen werden.

    4.2.2 Die Problematik narzißtischer Persönlichkeiten

    Im Falle Isidoras bzw. ihres Vaters spricht man von einer sog. narzißtischen Persönlichkeitsorganisation. Deren Definition nach der 3. Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorder (DMS III) beschreibt sehr genau Isidoras Verhalten, das charakterisiert wird durch

    ein grandioses Gefühl der eigenen Bedeutung und Einmaligkeit; ständige Beschäftigung mit Phantasien über unbegrenzten Erfolg; exhibitionistisches Bedürfnis nach ständiger Aufmerksamkeit und Bewunderung; charakteristische Reaktionen auf Bedrohungen des Selbstwertgefühls; charakteristische Störungen der zwischenmenschlichen Beziehungen, wie zum Beispiel das Gefühl, Anspruch auf etwas Besonderes zu haben; ausbeuterische zwischenmenschliche Beziehungen; Beziehungen, die schwanken zwischen extremer Überidealisierung und Entwertung; und ein Mangel an Empathie.[30]

    Sehr deutlich wird diese Übereinstimmung mit Isidoras Selbstwahrnehmung in Kapitel 11 Insomnio número cincuenta y tantos des Romans:

    ¡porque soy tan guapa, me estoy poniendo... divina! Aquí, recogida una en sí, y en esta soledad del pensar, cuando se vive a cien mil leguas del mundo, se puede decir ciertas cosas, que ni a la mejor de las amigas ni al confesor se le dicen nunca. ¡Qué hermosa soy! Cada día estoy mejor. Soy cosa rica, todos lo afirman y es verdad... [164f, 1038]

    Eindringlicher läßt sich ihre Selbstüberschätzung kaum darstellen. Ebenfalls hat Galdós die Problematik von Isidoras zwischenmenschlichen Beziehungen sehr genau nach dem obigen Schema geschildert: Die grenzenlose Bewunderung von Joaquín Pez[31] korrespondiert mit der generellen Ablehnung alles Vulgären[32] - das sich auch auf die Person Augusto Miquis'[33] bezieht -, und der ausbeuterischen Haltung gegenüber ihrem Onkel don José de Relimpio[34]. Galdós hat demnach das Bild einer narzißtischen Persönlichkeit recht genau gezeichnet, ohne daß es einen Begriff dieser Problematik zu seiner Zeit gegeben hätte. Ebenfalls gab es natürlich keine psychoanalaytische Theorie zur Entstehung dieses Phänomens. Im allgemeinen geht man heute davon aus, daß eine solche Persönlichkeitsorganisation auf Erfahrungen in sehr früher Kindheit zurückgeht, die entweder in starken Frustrationserlebnissen oder einer Überverwöhnung bestanden.[35] Isidora beschreibt diesbezüglich ihre Kindheit in folgender Weise:

    ¡Fuimos tan mimados cuando éramos niños!... Nos hacía el gusto en todo, y como entonces mandaba el partido y él tenía una buena colocación porque estaba en Propiedades del Estado, vivíamos muy bien. En aquella época Rufete puso nuestra casa con mucho lujo, con un lujo... ¡Dios de mi vida! Como él no tenía más idea que aparentar, aparentar, y ser persona notable...[29f, 979]

    An dieser Stelle wird deutlich, daß Isidora den Ansprüchen ihrer Kindheit später nicht mehr gerecht werden konnte. Natürlich reicht eine solche Angabe nicht zur vollständigen Erklärung ihres Verhaltens, wozu wesentlich mehr Informationen über die Konstellationen in ihrer Kindheit erforderlich wären. Es ist jedoch nicht verwunderlich, daß es im vorliegenden Roman diese Hinweise nicht gibt, da Galdós nicht von der Relevanz solcher Erfahrungen ausging und sie somit nicht als erzählenswert betrachtete. Die Parallelen zwischen der eigenen Problematik Tomás Rufetes und der seiner Tochter sind an dieser Stelle jedoch so offensichtlich, daß es verwundert, daß Isidora sie nicht selbst erkannt hat.[36] Jedoch sieht man eher den neurotischen Stachel im Auge des Bruders als den Balken im eigenen. Es ist in der Tat so, daß Isidora das Lebenskonzept ihres Vaters in fast identischer Weise weiterführt, auch gerade dadurch, daß sie seine Abstammung von ihm leugnet.

    4.2.3 Die Entwicklung des moralischen Urteils

    Ein weiterer Untersuchungsgegenstand im Bereich der Entwicklungspsychologie liegt in der Frage nach der Entwicklung der Intelligenz und des moralischen Urteils. Nach den kognitiv-strukturellen Theorien von Piaget und Kohlberg entwickeln sich beide in Stufen, wobei alle Stufen aufeinander aufbauen und sich nach charakteristischen Lern- und Erkenntnisfortschritten ablösen. Würde man anhand dieser Entwicklungsstufen das Verhalten Isidoras einordnen, befände sie sich auf einem sehr niedrigen Niveau, das dem eines sechs- bis zehnjährigen Kindes entspräche. Sie scheint z.B. der Überzeugung zu sein, daß "leibliche Anmut" und adlige Herkunft miteinander korrelieren, so daß eine schöne Frau wie sie, einfach aus einem besonderen Geschlecht stammen muß. Dies entspricht der naiven Vorstellung, daß das Schicksal, das einem diese außergewöhnliche Gabe geschenkt hat, dafür sorgen muß, daß sie auch dementsprechend zur Geltung kommt. Galdós inszeniert diese Überzeugung meisterhaft in der Szene vor dem Spiegel:

    Contemplóse en el gran espejo, embelesada de su hermosura... Allí, en el campo misterioso del cristal azogado, el raso, los encajes, los ojos, formaban un conjunto en que había algo de las inmensidades movibles del mar alumbradas por el astro de la noche, Isidora encontraba mundos de poesía en aquella reproducción de sí misma. ¡Qué diría la sociedad si pudiera gozar de tal imagen! ¡Como la admirían, y con qué entusiasmo habían de celebrarla las lenguas de la fama! ¡Qué hombros, qué cuello, qué... todo! ¿Y tantos hechizos habían de permanecer en la obscuridad, como las perlas no sacadas del mar? No, ¡absurdo de los absurdos! Ella era noble por su nacimiento, y si no lo fuera, bastaría a darle la ejecutoria su gran belleza, su figura, sus gustos delicados, sus simpatías por toda cosa elegante y superior.[369, 1122]

    Isidora besitzt ebenfalls ein recht naives Gerechtigskeitsempfinden, das ihr weismacht, die Wahrheit müsse sich im Leben immer durchsetzen und unnötiges Leiden später umso mehr entlohnt werden. Nach der Auffassung Galdós wurde Isidoras Urteilsvermögen stark durch die Lektüre bestimmter Trivialliteratur geprägt, so daß selbst Joaquín Pez zu ihr sagt:

    Los novelistas han introducido en la sociedad multitud de ideas erróneas. Son los falsificadores de la vida, y por esto deberían ir todos al presidio. [386, 1129]

    Galdós unterstreicht dies an anderer Stelle, indem er Isidora sagen läßt:

    No es caso nuevo ni mucho menos decía. Los libros están llenos de casos semejantes. ¡Yo he leído mi propia historia tantas veces...! Y ¿qué cosa más linda que cuando nos pintan una joven pobrecita, muy pobrecita, que vive en una guardilla y trabaja para mantenerse; y esa joven, que es bonita como los ángeles y por supuesto, honrada, más honrada que los ángeles, llora mucho y padece porque unos pícaros quieren infamar; y luego, en cierto día, se para una gran carretela en la puerta y sube una señora marquesa muy guapa, y va a la joven, y hablan y se explican, y lloran mucho las dos, viniendo a resultar que la muchacha es hija de la marquesa, que la tuvo de un cierto conde calavera? Por lo cual, de repente cambia de posición la niña, y habita palacios, y se casa con un joven que ya, en tiempos de su pobreza, la pretendía y ella le amaba...[117, 1018]

    Isidora nimmt demnach für bare Münze, was sie in vielen Groschenromanen gelesen hat. Ob diese Art der Medienrezeption der Realität entspricht, oder ob die Urteilsstrukturen eines Menschen nicht doch im wesentlichen durch Erfahrungen des Alltags geprägt werden, stellt Galdós nicht zur Diskussion. In diesem Zusammenhang unterscheiden sich die politischen Utopien, denen die männlichen Personen des Romans nachhängen, wenig von den aristokratischen Träumen Isidoras.

    4.3 Das soziale Phänomen des Abstammungswahns

    Im Gegensatz zu den spezifischen Inhalten des Tagtraumes, zu denen ebenfalls Selbstüberhöhungsphantasien gehören, bedarf es einer besonderen Disposition eines Menschen, solche Vorstellungen als real anzunehmen und sie als solche vor seiner Umwelt zu behaupten. Unbeschadet der Tatsache, ob Isidora eine Vertreterin des sog. Abstammungswahns ist oder nicht, sollen die Besonderheiten dieser Form von Größenwahn beschrieben werden. Aus einer Untersuchung von R. Avenarius[37] geht hervor, daß vor allem Frauen von diesen Wahnvorstellungen betroffen sind.

    Die Erklärung, daß in unserer Kultur die familiäre Herkunft wenigstens noch für die Frau als bedeutungsvoller angesehen wird, weil sie deren soziale Konsequenzen nur mit relativ höherem Aufwand kompensieren kann, liegt auf der Hand. Im herkömmlichen weiblichen Selbstverständnis spielt das von vornherein Mitgegebene, also neben der leiblichen Anmut die durch hohe oder niedrige Geburt festgelegte soziale Stellung eines Menschen, wohl auch eine größere Rolle als beim Mann, dessen traditionelle und vielleicht auch biologisch vorgegebene Zielsetzung sich eher auf Veränderung des Bestehenden durch eigenes Leisten richtet.[38]

    Die Patientinnen, bei denen Monarchenabstammung eine Rolle spielte, wurden alle vor 1910 geboren, ihre wahnhaften Größenideen entsprechen also den sozialen Verhältnissen ihrer Kindheit. (...) Das Thema dieses Wahns ist offenbar in dem Maße im Verschwinden begriffen, wie die soziale Bewertung dessen, was man allein der Geburt verdankt, an sozialer Achtung weniger gewichtet wird.[39]

    Im Gegensatz zu Isidora waren die von Avenarius untersuchten Fälle alle schizophren.[40] Ebenfalls scheint bei Isidora keine endogene, sondern eine von außen an sie herangetragene Form dieser Idee vorzuliegen, da ihr Vater und ihr Onkel ihr diesen Glauben nahebrachten. Dennoch scheint sie in besonderer Weise dazu disponiert zu sein, diese Geschichte zu akzeptieren. Für S. Freud besteht u.a. eine enge Verbindung zwischen Narzißmus und megalomanischen Vorstellungen:

    Freud sieht im Größenwahn die Regression in eine frühkindliche Entwicklungsphase, den Narzißmus, in der das Kleinkind die Symbiose mit der Mutter noch nicht gelöst, allgemein gesprochen die Subjekt-Objekt-Trennung noch nicht hinreichend vollzogen hat. Das Verhalten des Kindes ist noch nicht realitätsgerecht, sondern am Lustprinzip orientiert, Omnipotenz und Allmacht gehören zu dieser Entwicklungsphase.[41]

    Bereits in Kap. 4.2.2 wurde darauf hingewiesen, daß Isidoras Persönlichkeit stark narzißtische Züge trägt. Warum es für die wichtig sein könnte, aus einer adligen Familie zu stammen, liegt ebenfalls auf der Hand: Wie im vorhergehenden Kapitel erläutert wurde, ist sie durch die Einflüsse ihres Vaters dazu verurteilt, innerhalb der Gesellschaft eine hervorgehobene Position zu suchen. Innerhalb der spanischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert war es für eine Frau kaum möglich, dies durch eigene berufliche Leistungen zu erreichen. Selbst bei ihrem Vater hat sie erlebt, daß dessen außergewöhnliche Anstrengungen ihn schließlich in den Wahnsinn getrieben haben. So bleibt für Isidora nur die Möglichkeit, einen adligen Mann zu heiraten - was ihr trotz außergewöhnlicher Anstrengungen im Falle von Joaquín Pez nicht gelingt -, oder die fiktive Abstammung von der Marquesa de Aransis gerichtlich durchzusetzen. Isidora bewegt sich daher im Rahmen der traditionellen Bahnen gesellschaftlicher Mobilität, auf andere Weise ist ihr als Frau kein sozialer Aufstieg möglich.

    Andererseits stellt sich die Frage, ob eine Person in jedem Falle dazu bereit ist, ihre Identität, die an ihre Abstammung und ihr bisheriges Elternhaus gekoppelt ist, ohne innere Widerstände aufzugeben. Galdós beschreibt Isidora als Überzeugungstäterin, nicht als eine Betrügerin, die sich vorsätzlich ein Vermögen erschleichen will. Von daher glaubt sie wirklich fest daran, nicht Tochter von Tomás Rufete, sondern Enkelin der Marquesa de Aransis zu sein.

    Doch selbst wenn Isidora tatsächlich aus dieser adligen Familie stammte, müßte sie im Falle einer normalen Persönlichkeitsstruktur Schwierigkeiten mit der plötzlichen Veränderung ihrer familiären und gesellschaftlichen Situation haben, selbst dann, wenn sie ihr scheinbar nur Vorteile brächte. Jedoch scheint sie nicht die geringsten Zweifel an der Gültigkeit der Geschichte zu besitzen und ihre Unsicherheiten liegen lediglich darin, ob sie auch in der Lage sein wird, die adlige Rolle gebührend auszufüllen. In diesem Zusammenhang erscheint das Verhalten ihres Bruders Mariano wesentlich plausibler, da er wenig Anstalten macht, sich plötzlich als etwas Besseres zu fühlen und zu benehmen. Er nimmt das "Angebot" Isidoras nicht an und möchte lieber derjenige bleiben, der er ist, obwohl zu erwarten wäre, daß er aufgrund ähnlicher Kindheitserfahrungen ähnlich dazu disponiert ist. Wie diese ungewöhnliche Diskrepanz zustande kommt, erklärt Galdós nicht.

    4.4 Isidoras Verhalten als psychische Abwehrmaßnahme

    Eine besondere Bedeutung bei der Beurteilung Isidoras Verhalten sollte der Verdrängung des als ungerecht empfundenen Schicksals beigemessen werden. Auch bei der Entstehung von Größenwahn, wie z.B. beim oben erwähnten Abstammungswahn, spielt dieser Aspekt eine wichtige Rolle.[42] Unter dem Begriff von Abwehr versteht man

    die Versuche zur Vermeidung aller für das Ich unlustvollen Vorgänge, nicht nur der Angst. Man spricht daher auch von Abwehr von Trauer, Depression, Kränkung, Verletztwerden usw. Zur Abwehr kann grundsätzlich jeder psychische Vorgang und jedes Verhalten eingesetzt werden, welches das Ziel erreicht, etwas Gefürchtetes oder Verpöntes in Schach zu halten.[43]

    Daß es im Rahmen eines solchen Abwehrverhaltens zur Leugnung der eigenen Herkunft und Familienzugehörigkeit kommt, ist eher ein seltenes Phänomen, wie auch aus der Studie von R. Avenarius hervorging. Im Falle Isidora Rufetes fällt auf, daß sie erst nach dem Schwachsinn des Vaters mit dem Gedanken spielt, sich nicht als dessen leibliche Tochter auszugeben und nach seinem Tode schließlich damit an die Öffentlichkeit tritt.

    Wie Isidora selbst schildert, war mit der Krankheit ihres Vaters eine enorme psychische Belastung für die Familie verbunden:

    Mi madre murió en aquellos días prosiguió Isidora, casi completamente ahogado por el llanto. Aquel día, ¡oh Dios mío, qué día! (...) No puedo recordar estas cosas; me muero de pena. [28, 979]

    Isidoras Mutter starb vor Gram, während sie selbst zumindest die Erinnerung an jene Erfahrungen unterdrückt, weil sie weiß, daß sie dies nicht ertragen könnte. Diese Erlebnisse müssen auch deshalb extrem belastend gewesen sein, weil sie sich besonders mit der Person ihres Vaters identifiziert hatte. Diese Identifizierung möchte sie nun auf jeden Fall vermeiden, da nun sehr viel Leid, Ansehensverlust, Scham und Schande damit verbunden sind.

    Y todo cuanto he padecido ha sido injusto añadió ella prontamente, (...) . No sé si me explicaré bien; quiero decir que a mí no me correspondía compartir las penas y la miseria de Tomás Rufete,[29, 979]

    Die Zugehörigkeit zur Familie Rufete, die ihr bislang die Erfüllung ihres Lebensprogramms und Aufrechterhaltung ihres Selbstbildes garantierte, bedeutet nun eine Bedrohung für sie. Isidora löst dieses doppelte Problem dadurch, daß sie die Abstammung von Tomás Rufete negiert und das Angebot, die Tochter einer wohlhabenden Marquesa zu sein, dankbar annimmt. Sie hofft auf diese Weise, innerhalb der Gesellschaft nicht mehr als Tochter des verrückten Tomás Rufete gesehen zu werden und gleichzeitig das Lebensskript ihres Vaters, reich und berühmt zu sein, zu erfüllen. Anders kann sie nicht in der Gesellschaft existieren, dann zieht sie sogar vor, gesellschaftlich nicht zu existieren, d.h. eine Prostituierte zu sein.

    Diesen verschiedenen Interpretationsversuchen psychologischer Art soll nun Galdós' Konzeption gegenüber gestellt werden, um die Frage nach der Legitimität seines Ansatzes aus heutiger Perspektive zu stellen.

    5 Kritik an der Konzeption Galdós'

    5.1 Isidora Rufete als Negativfolie zu Augusto Miquis

    Im Kap. 2.2 Besonderheiten der Psychologie in Spanien im 19. Jahrhundert wurde bereits auf die besondere Verbindung von Psychologie und Pädagogik hingewiesen und der Einfluß Krauseschen Gedankenguts deutlich gemacht. Der Idealtyp eines durch diese idealistische Philosophie geformten Menschen wird durch Augusto Miquis repräsentiert: intelligent, humorvoll, vielfältig begabt; dennoch bescheiden, fleißig und Herr seiner Leidenschaften. Isidora Rufete ist genau das Gegenteil davon und repräsentiert einen Typ Mensch, dem nicht die Zukunft gehört bzw. gehören darf.[44] Isidora Rufete besitzt in den Augen Galdós' kaum gesellschaftlich nützliche Eigenschaften, sondern verfolgt ausschließlich parasitäre, snobistische Interessen. Dem gegenüber steht der Arzt Miquis, der verantwortungsvoll sein Studium, später seine Arbeit und sein Familienleben betreibt, und so ein geschätztes und nützliches Glied der modernen Gesellschaft wird.

    Isidora ist gegenüber Miquis in vielfacher Hinsicht benachteiligt: weder besitzt sie dessen Talente, noch würden sie ihr als Frau von Nutzen sein, außerdem stammt sie aus einer äußerst problematischen Familienkonstellation. Jedoch sollte sie zufrieden damit sein, daß die Natur sie mit attraktiven äußeren Reizen ausgestattet hat, so daß tatkräftige Männer wie Augusto Miquis und Juan Bou sie begehren, denen sie eine gute Frau und Mutter von Kindern sein könnte. Daß sie diese Perspektive nicht akzeptiert, stempelt sie in den Augen von Galdós zu einem asozialen Wesen ab, das kein besseres Schicksal als das einer Prostituierten verdient.

    Galdós vertritt daher auch für das neue Spanien eine Aufteilung der Geschlechterrollen, nach der sich die Frauen auf den häuslichen Bereich konzentrieren sollen, wogegen den Männern der aktive Part in Beruf und Gesellschaft vorbehalten ist. Für Isidora bliebe nichts anderes übrig, als sich über die Position ihres Ehegatten zu definieren, eine Vorstellung, die erst im 20. Jahrhundert zunehmend in Frage gestellt wurde. Galdós scheint andererseits nichts gegen die Verbindung einer ungebildeten Frau mit einem gebildeten Mann in der Ehe zu haben, es ist vielleicht sogar seine Idealvorstellung.[45] Daß Isidora nicht in eine solche Ehe einwilligt, sondern charakterlose und ihrer Leidenschaft verfallene Männer bevorzugt, wird ihr schließlich zum Verhängnis.

    Glücklicherweise scheinen nicht alle Frauen in der damaligen Gesellschaft von derartigen Ambitionen besessen gewesen zu sein, so daß Galdós nach Erklärungen für ein solches Verhalten sucht. Aus diesem Grund versucht er sich in die Denk- und Urteilsstrukturen einer solchen Frau hineinzuversetzen, die ihr Handeln plausibel erklären könnten.

    Bei seinen Erklärungsversuchen scheint Galdós einer Reihe zeitgenössischer pädagogischer und psychologischer Vorurteile aufgesessen zu sein. Für ihn war es wohl selbstverständlich, daß ein Mensch, der seine einfache Herkunft verleugnet und vorgibt, die verschollene Tochter einer Adligen zu sein, ein Opfer seiner eigenen, überbordenden Phantasie sein muß. Aus diesem Grund stattet er diese Person mit einem extensiven Tagtraumleben aus. Des weiteren muß diese Person ein besonders unterentwickeltes Urteilsvermögen haben, das sie daran hindert, die Sinnlosigkeit ihres Verhaltens einzusehen. Dieses Denken führt er auf den gesteigerten Konsum von Trivialliteratur zurück, da in dieser Art von Literatur nach solchen idealisierten Schemata agiert wird und unrealistische Wirklichkeitsentwürfe geliefert werden. Die Neigung zu beidem hat Isidora schließlich ererbt, so daß ein in sich geschlossenes Erklärungsmodell geliefert wird. Immerhin muß man ihm zugute halten, daß er eine relativ genaue Beschreibung einer narzißtischen Persönlichkeit zuwege gebracht hat, ohne jedoch auf die besondere Problematik dieser Persönlichkeiten eingehen zu können.

    Aus heutiger Sicht würde das Verhalten Isidoras sicherlich auf ganz andere Weise erklärt werden, wie im Kap. 4 dargestellt wurde. Welche Konsequenzen sich daraus im Hinblick auf mögliche Therapiemaßnahmen ergeben, soll im Folgenden kurz mit den Vorschlägen Galdós' verglichen werden.

    5.2 Isidora Rufete: ein hoffnungsloser Fall?

    Trotz ihrer ererbten Hypothek wäre Isidora nicht grundsätzlich ihrem Schicksal ausgeliefert gewesen, wenn sie die Hilfestellungen und Therapievorstellungen der Gesellschaft akzeptiert hätte. Dazu verpflichtet Galdós sein pädagogischer Ansatz. Erstaunlicherweise beschreibt er sie von ihrer psychischen Dynamik her so, daß ihr kaum eine andere Möglichkeit zur Bewältigung ihres Schicksal als die Behauptung der von Galdós so negativ gesehenen adligen Abstammung übrig bleibt. Des weiteren hat der Autor sie mit einem Innenleben ausgestattet, das als eine Ansammlung von damaligen pädagogischen und psychologischen Vorurteilen bezeichnet werden könnte. Dennoch scheint es ihm notwendig, Isidoras Denk- und Urteilsstrukturen darzustellen, um ihr Verhalten dem Leser plausibel zu machen. Daß ihr Handeln aus ganz anderen Gründen plausibel sein könnte, scheint nicht in der Reichweite des Autors zu liegen.

    Im Laufe seines Romans versäumt Galdós es daher nicht, seine Protagonistin zum Einlenken zu bewegen. Besonders Augusto Miquis scheint sich in seiner Funktion als Arzt eine richtiggehende "Therapie" ausgedacht zu haben. Im wesentlichen versucht er, Isidoras Gedanken, d.h. ihr Bewußtsein, auf konkrete Alltagsdinge zu lenken, um sie dadurch mit der Realität zu konfrontieren und zu versöhnen. Auch wenn ihm dies zeitweise gelingt, wird Isidora beim ersten Kontakt mit der Welt der Schönheit und Eleganz wieder rückfällig. Dieses Verhalten gleicht z.B. dem eines "trockenen" Alkoholikers, der durch den bloßen Genuß einer Weinbrandbohne wieder seiner Sucht verfällt. Das Therapiekonzept Miquis' ähnelt dem einer kognitiven Verhaltenstherapie und soll in erster Linie eine Veränderung des Bewußtseins bewirken. Dies ist nicht verwunderlich, da die Psychologie in jener Zeit den Begriff des Unbewußten noch nicht kannte. Dennoch bringt diese Methode Isidora ebensowenig zur Räson wie die anfängliche Tracht Prügel ihrer Tante Sanguijelera.

    Isidoras Verhalten wird von Galdós wie eine Sucht behandelt, deren wirksamstes Gegenmittel eine radikale Abstinenz von der Droge ist. Im Falle Isidoras gelingt dies nicht; sie verfällt wieder ihrer Ruhmessucht. Ihre Sucht ist für Galdós deswegen so schwer zu therapieren, weil die Droge, ihre Phantasien und Träume, ein Teil von Isidora selbst sind und sie daher nicht von ihr ferngehalten werden können.

    Der symptomorientierten Therapie Miquis' würde die Psychoanalyse oder andere Therapieformen eine konfliktorientierte entgegenstellen, bei der das Hauptaugenmerk auf Isidoras innere Konflikte und frühkindliche Erfahrungen gelegt werden würde, wobei der Auseinandersetzung mit der Person des Vaters sicherlich im Mittelpunkt stehen würde. Natürlich wäre auch auf diesem Wege kein Erfolg garantiert, da besonders narzißtische Persönlichkeiten in die Gruppe der schwer zu therapierenden fallen.[46] Das Ziel würde vor allem darin liegen, Isidora zu einer für sie akzeptablen Identität zu verhelfen, mit der sie einen Platz in der Gesellschaft für sich findet, der weder >>en lo más alto noch<< >>en lo más bajo<< liegt.

    6 Schlußbemerkungen

    Wie im Laufe der vorliegenden Arbeit deutlich wurde, stellt das Phänomen des Fiktiven für Galdós ein Mittel zur Realitätsverdrängung dar, das es dem einzelnen unmöglich macht, seine Realität erfolgreich zu bewältigen, bzw. sich einfach mit ihr abzufinden. Die Persönlichkeit, die er zur Veranschaulichung seiner Auffassung konzipiert hat, lebt in einer zweiten Welt der Phantasie und scheitert dadurch am wirklichen Leben. Wie in Kap. 4 der Arbeit erläutert wurde, steht die Konstruktion der Persönlichkeit Isidoras auf wackligen Füßen. Viele ihrer Handlungen sind aus psychologischer Sicht verständlich und wesentlich anders zu erklären als bei Galdós.

    Positiv läßt sich hervorheben, daß er eine genaue Beschreibung einer Persönlichkeit abgegeben hat, die als narzißtisch bezeichnet werden könnte. Galdós hat somit exakt die Züge eines solchen Charakters erkannt und in ihm eine Gefahr für die spanische Gesellschaft gesehen. Jedoch verläßt er im Laufe seines Romans die Ebene der Beschreibung und sucht nach Erklärungen, die über die äußerliche Wahrnehmung hinausgehen. Er versucht in die Innenwelt Isidoras einzutauchen und ihre Gedankengänge nachzuvollziehen. Dies ist ihm m.E. weniger gut gelungen, weil er die Problematik dieser Einzelpersönlichkeit nicht adäquat erfaßt hat, bzw. mit dem Wissen seiner Zeit nicht erfassen konnte.

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